Bunte Wagen 1936 in und um Berlin


Ich sehe Euch noch immer am Waldesrand
da - wo einst der bunte Wagen stand.

Ich höre noch das Knattern der Wäsche im Wind
und den Ruf einer Mutter nach dem braunen Kind.

Ich rieche noch das Feuer und das Essen im Topf.
Das struppige Hündchen hebt schnuppernd den Kopf.

   Zwei muntere Pferdchen rupfen hungrig am Gras,
und mir kam alles vor - wie ein riesiger Spaß.

     Aber - war der Ton der Fidel auch hoch und klar,
er brachte nur Pfennige - verteilt übers Jahr.

Wenn der Dorftanz vorbei, dann rief man: "Ihr Streuner,
packt ein - und verschwindet - Zigeuner!"

 Euer Leben schien karg und drückte alle gleich,
aber Euch war es köstlich und machte Euch reich.

Ganz plötzlich kam ein Teufel mit seinem Wahn
und für Euch blieb nur noch der Rastplatz Marzahn.

Nicht einmal über Eure Gräber wehet der Wind -
doch er weiß genau, wo die Zigeuner sind.

Er trug Eure Asche mit den Wolken fort,
von Auschwitz-Birkenau - dem schrecklichen Ort.

Mein Herz sucht Euch noch immer am Waldesrand,
da - wo einst der bunte Wagen stand.

 

                                     Rosemarie Erdmann

 

Als die bekannte und beliebte Schlagersängerin Marianne Rosenberg im Fernsehen in einer Talkshow erzählte, daß sie eine Zigeunerin ist und das schwere Los der Sinti und Roma schilderte, war ich erst fasziniert und dann sehr nachdenklich.

Mein Gott, ja - die Zigeuner! Wo waren die, die ich gekannt hatte, eigentlich geblieben? Eines Tages waren sie verschwunden, und ich sah sie niemals wieder.

Mit 5 oder 6 Jahren - so um 1935 - wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Zigeunerkind zu sein. Das stellte ich mir herrlich vor. Ich wollte auch in einem bunten Wagen wohnen und fröhlich durch die Welt ziehen. Natürlich mit zwei hübschen Pferdchen vorne eingespannt und lautem Peitschengeknalle. Abends wollte ich am Lagerfeuer sitzen und Zigeunermusik hören und nicht ewig saubere Kleidchen tragen und nicht in die Schule gehen müssen.

Ich war reineweg verrückt nach Zigeunern und reckte mir fast den Hals aus, wenn ich irgendwo welche lagern sah. Dazu bot sich mir oft Gelegenheit, denn wir machten auf dem Motorrad meines Vaters sonntags Ausflüge übers Land, rundherum um Berlin. Überall hielten meine Augen nach Zigeunern Ausschau und die Krönung war, wenn ich an einem Waldesrand oder auf einer Wiese bunte Wagen entdeckte.

Wir picknickten bei schönem Wetter auf Waldwiesen in der Nähe eines Sees. Meistens machte meine Mutter tags zuvor Kartoffelsalat, brutzelte Schnitzel, packte Kuchen und Flaschen voller Säfte ein, und irgendwo ließen wir es uns auf unserer Decke in Gottes freier Natur schmecken. Mein Entzücken kannte keine Grenzen, als ich eines Tages, allein beim Durchstreifen der Gegend, plötzlich vor einem Zigeunerlager stand, zu dem mehrere Wagen und Pferde gehörten.

Neugierig umkreiste ich sie und sah mir alles genau an. Ein kleiner Junge streckte mir zwar die Zunge raus, aber das übersah ich einfach. Ein Mädchen in meinem Alter mit kohlrabenschwarzen Augen und Locken, interessierte sich genauso für mich wie ich mich für sie. Richtiges Glück durchzuckte mich, als eine Zigeunerfrau mir winkte, ich solle zu ihr kommen. Gerade wollte ich hinlaufen, da kam meine Mutter schon angestürmt, riß mich am Arm herum und zottelte mich schimpfend weg: "Ich solle mich nicht so alleine im Wald herumtreiben, das sei zu gefährlich. Ich haßte sie richtig dafür.

Bücher heizten meine Phantasie kräftig an. Ich stamme aus einer Familie der Leseratten. Heute sitzen viele Kinder stundenlang vor dem Fernseher. Mir las mein Vater damals stundenlang Märchen und Geschichten vor, und eine weite herrliche Welt eröffnete sich mir. Ich kannte schon die Gesamtausgabe des Nils Holgersohn, als Gleichaltrige sich noch die Bilder des Struwelpeter beguckten. Ich lernte auch sehr zeitig selbst lesen.

Im Hause meiner Großmutter in Forst, in der Lausitz, gab es wundervolle Kinderbücher, die damals schon altmodisch waren und die ich begierig verschlang, und wenn ich hinkam, jedesmal neu erlebte. Eines fesselte mich besonders, denn die Handlung spielte unter Zigeunern.

Leider weiß ich nicht mehr, wie die Geschichte hieß, aber eine alte Zigeunerin Mara spielte die Hauptrolle. Ich konnte nicht verstehen, daß meine Familie meine Liebe zu den Zigeunern nicht teilte. Das Gegenteil war sogar der Fall. Entdeckte meine Großmutter Zigeuner im Städtchen, rief sie: "Kinder, schließt die Haustür ab und nehmt die Wäsche von der Leine!"

Bei uns zu Hause in der Splanemann-Siedlung, damals noch Kriegerheim-Siedlung genannt, verschwanden immerzu saftige Pfirsiche - kurz vor der Ernte aus unserem kleinen Garten. Natürlich hieß es sofort: "Das waren bestimmt die Zigeuner!" Um sie auf frischer Tat zu ertappen, baute mein Vater eine Falle. Er spannte einen dünnen Seidenfaden durch den Garten und wirklich, als in der nächsten Nacht die Diebe dagegen liefen, klingelte neben Vaters Bett der Wecker, der mit dem Faden verbunden war. Vater sprang zuerst in die Hosen und dann in den Garten. Er fing gleich zwei Diebe - zwei junge Mädchen aus der benachbarten Laubenkolonie. Vater schimpfte sie kräftig aus und ließ sie laufen. Ich stand mit meiner Mutter und meiner Schwester im Nachthemd auf dem Balkon und verfolgte das Schauspiel. Triumph erfüllte meine Kinderbrust: Meine Zigeuner waren es nicht gewesen. Die taten mir richtig leid. Immer sollten sie es sein, wenn irgendwo jemand was ausfraß.

Ich fing an - als Sympathiebeweis - ein Kopftuch so zu tragen wie die Zigeunerinnen. Ich legte es als Dreieck über den Scheitel und knotete die Seitenzipfel unter meinem Haar hinten im Nacken zusammen. Meine Schwester Gisela, 10 Jahre älter als ich, lachte mich ekelhaft aus, als sie mich so sah und rief: "Du wirst nie wie eine Zigeunerin aussehen, immer nur wie ein Landei!" Da ließ ich es wieder.

Meine Schwester lernte damals bei Foto-Hanne, dem Geschäft in dem kleinen Pavillon an der Treskowallee neben dem Bahnhof Karlshorst. Rechts war der Fotoladen, links Buchhandel und Verleih. Zuerst lernte sie im Fotoladen. Leider bekam ihr die Arbeit in der Dunkelkammer überhaupt nicht. Sie wurde bleichsüchtig, fiel oft in Ohnmacht und mußte im Antonius-Krankenhaus hochgepäppelt werden. Dann riet man ihr, den Beruf aufzugeben, und sie wechselte über in den anderen Hanne-Laden und lernte Buchhändlerin.

Das war für mich ein gefundenes Fressen. Stundenlang hockte ich im Laden auf der Leiter und schwelgte in alten und neuen Büchern oder saß im Keller, wo die ausrangierten und zerfledderten lagerten. Ich suchte und suchte, aber Zigeunerbücher fand ich keine mehr. Ich las fast nur noch - auch auf dem Klo - wenn ich mich vor dem Abtrocknen drücken wollte. Ich laß mit der Taschenlampe unter der Zudecke, wenn ich eigentlich schlafen sollte, und ich probierte es beim Spazierengehen - aber das klappte nicht.

Dann bekam ich wegen der Zigeuner meinen ersten, und Gott Lob, auch einzigen Tobsuchtsanfall in meinem Leben. Bis jetzt jedenfalls. Und das kam so: Meine Mutter erkrankte an einer Rose am Bein, die ihr arge Schmerzen bereitete. Die Mittelchen, die ihr unser alter Dr. Schmidt aus Friedrichsfelde verschrieb, halfen nicht. Alle guten Ratschläge befolgte sie, probierte alles aus, aber die Rose schmerzte weiter. Dann riet eine Nachbarin, sie müsse unbedingt zum Besprechen gehen. Nun gut - aber wo? Nach ein paar Tagen kam die gute Frau und sagte, es sei ihr gelungen, eine Verbindung zu Zigeunern aufzunehmen, die irgendwo in der Nähe der Rennbahn Karlshorst ihr Lager aufgeschlagen hatten. Eine alte Frau wolle die Rose besprechen.

Ich glaubte nicht richtig zu hören; dann brach es jubelnd aus mir raus: "Endlich sehe ich einen Zigeunerwagen von innen!" Vor Freude tanzte ich in der Küche umher wie Rumpelstilzchen. Meine Mutter sagte: "Wie kommst du darauf, daß ich dich mitnehme? Gisela kommt mit! Die kann auf meine Handtasche aufpassen. Ich erstarrte. Meine Schwester, die manchmal versuchte an mir mütterliche Erziehungsmethoden auszuprobieren, sah mich strafend an und rief: "Das Kind hat eine Macke - eine Zigeunermacke!"

Ich geriet in Wut und schrie: "Du olle Zimtzicke!" Das war gerade das schärfste abfälligste Schimpfwort, das ich kannte und brüllte weiter: "Ich darf nie was! Immer nur du, du, du. Jetzt darfst auch wieder nur du mit - und ich nicht." Meine Mutter sagte ganz gelassen: "Das hast du richtig erkannt. Du bleibst zu Hause. Du bist noch zu klein für so was." Da reichte es mir. Das Maß war voll und schwappte über. Ich stampfte wild mit den Füßen und kreischte wie am Spieß. Meiner Mutter platzte der Kragen. Sie griff nach mir und versohlte mir nach Strich und Faden den kleinen Hintern. Außer mir vor Empörung fiel ich in einen Schreikrampf, wurde dann ganz blau im Gesicht und schlug wie eine Rasende um mich. Aber ich war noch fähig, zu registrieren, wie es meine Mutter nun plötzlich mit der Angst zu tun bekam und mich beruhigen wollte, was ich aber einige Zeit dauern ließ, denn es ging mir wie Öl ein. Heimlich fühlte ich mich als Siegerin und sah mich im Geiste nun doch im Innern des bunten Wagens.

Aber am Nachmittag ging meine Mutter nicht mit mir zu den Zigeunern, sondern nach Friedrichsfelde zu Dr. Schmidt und erzählte ihm von meinem Ausnahmezustand. Der gute alte weißhaarige Mann sah mich nachdenklich an und sagte: "T t t t, na so was!" und nach einer Pause: "Liebe Frau Heinze - und als ihr Töchterchen dann so richtig schön blau war - da hätten sie es noch viel doller verwackeln sollen!"

Also kurz und gut - zum Rosebesprechen durfte ich nicht mit, und ich habe nie einen bunten Wagen von innen gesehen. Aber das Besprechen hat meiner Mutter geholfen, die Schmerzen verschwanden.

Auf dem riesigen Laubengelände, das - wie schon gesagt - hinter unserer Siedlung lag, wohnten mehrere Zigeunerfamilien, die ich vom Ansehen kannte. Sie kamen immer an unserem Haus vorbei, und wir kauften zusammen im kleinen Lebensmittelladen von Thiemanns ein. Ganz besonders liebte ich einen großen schlanken, alten Herrn mit mächtigem Schnauzbart und weißen Haaren. Ganz forsch kam er immer daher und lüftete höflich seinen Hut, wenn er meiner Mutter begegnete, und er sagte "Guten Morgen, schöne Frau!" und meine Mutter errötete dann jedesmal, was ich äußerst komisch fand.

Mir blinzelte er manchmal lustig zu, und ich freute mich schon, wenn ich ihn von weitem sah. Sein Hut saß immer etwas verwegener auf dem Kopf, als der Hut bei anderen Männern. Einmal, bei Thiemanns im Laden, brachte er mich zu lautem Lachen. Er schnarrte das R fast wie ein L, und da hörte es sich so lustig an, als er fragte: "Guten Molgen, haben sie saule Gulken?" Dann waren da noch zwei jüngere Ehepaare, die immer vorbeikamen und die sich außerordentlich farbig und bunt anzogen. Ihre Kleidung war wohl so, wie man sich die Kleidung der Zigeuner vorstellte, wenn man - wie ich - eine blühende Phantasie hatte; so richtig weite, bunte, lange Röcke mit einem Volant. Ich fand sie umwerfend schön.

Die schwarzen Locken bändigten sie mit einem Tuch, wie ich es probiert hatte, und sie trugen wunderbare hochhackige Schuhe. Auch die beiden Männer sahen so aus, daß ich sie genauso neugierig betrachtete. Sie trugen schicke Anzüge, entweder ganz dunkel oder ganz hell. Wenn ich heute so zurückdenke, möchte ich fast sagen, sie waren im Schaugewerbe tätig. Sie imponierten mir mächtig, weil sie so hübsch aussahen. Und eines Tages, ich weiß nicht mehr wann, kamen sie nicht mehr. Ich sah sie niemals mehr wieder. Ganz still verschwanden sie aus meinem Kinderleben. Als ich fragte: "Wo sind denn die Zigeuner geblieben," sagte man mir: "Ach, die wohnen jetzt alle in Marzahn!" Da war ich beruhigt. Unter Marzahn konnte ich mir etwas vorstellen. Marzahn gehörte damals noch zu Lichtenberg und war ein sehr hübsches Dorf. Es leuchtete mir ein, daß es ihnen da besser gefiel als anderswo. Ich traf auch keine bunten Wagen mehr am Waldesrand. Ich vergaß die Zigeuner über viele Jahre. Nie fragte ich ernsthaft: "Wo sind sie wirklich geblieben? Gehört - ohne richtig hinzuhören - hatte ich in den vielen Jahren, die vergangen sind, manches. Als ich nun Marianne Rosenberg im Fernsehen sprechen hörte, wollte ich es ernsthaft wissen. Wo sind sie geblieben? Was ist geschehen damals?

Eines schönen Sonntags fuhr ich kurz entschlossen mit meinem Mann auf den großen Stellplatz der Zigeuner nach Dreilinden. Ich wollte persönlichen Kontakt aufnehmen. Alles sah anders aus als früher. Bunte Wagen gab es nicht mehr. Wohnwagen unterschiedlichster Größe und Preislagen haben sie abgelöst. Vorzelte erweitern die überdachten Wohnflächen. Es ist eine neue andere Zeit, die auch das Zigeunerleben veränderte. Es sieht nun aus wie auf jedem Campingplatz, alles super ordentlich und sauber, gespickt mit Fernsehantennen. Man kocht nicht mehr auf offenem Feuer und es weiden keine munteren Pferdchen mehr. Zwei Zigeuner, Vater und Sohn, gaben uns freundlichst Auskünfte und wollten uns mit einer alten Frau bekannt machen, die Marzahn überlebt hatte. Aber deren Enkelin sagte, sie sei ausgegangen, und wir respektierten das. Trotz aller Freundlichkeit blieb man zurückhaltend, was ich wohl verstehe.

Ich erhielt die Adresse vom Landesverband der Sinti und Roma, dessen Vorsitzender Herr Otto Rosenberg ist - dem Vater von Marianne R. - . Ich rief ihn gleich am nächsten Tag an und war angenehm von seiner Offenheit überrascht. Er selbst mußte als Kind unter größtem Leid das Marzahner Lager und auch Auschwitz über sich ergehen lassen. Er erzählte mir von schrecklichen Zuständen und Begebenheiten. Nach dem langen Gespräch verwies er mich noch an die Friedhofsgemeinde Marzahn. Von dort hörte ich, daß in ihrem Keller sehr viel unausgewertetes Material lagere, aber meinetwegen können sie das natürlich nicht überarbeiten - das würde Wochen, vielleicht sogar Monate dauern. Über das Heimatmuseum Lichtenberg landete ich beim Heimatmuseum Marzahn. Ein Hoch den Heimatmuseen! Dort war ich an er richtigen Stelle. Dort gab es sogar eine kleine Ausstellung über Sinti und Roma, die mir sehr viel Wissenswertes übermittelte. Man widmete mir hilfsbereit und freundlich mehrere Stunden. Man suchte Material zusammen, erzählte mir Schlimmes aus alter Zeit, machte mir Fotokopien und versah mich mit wertvollen Tipps und Adressen.

Ich wollte alles noch genauer wissen. Ich besorgte mir Literatur und durchstöberte Bildarchive und bekam schließlich einen etwas größeren Einblick in die schreckliche Zeit. Nun weiß ich, wo die Zigeuner, die ich kannte, geblieben sind, und ich will, daß Ihr es auch wisst. Ich werde Euch, gekürzt natürlich, erzählen, was ich erfahren habe.

Erst einmal vorneweg: sie lieben es gar nicht, daß man sie Zigeuner nennt. Diesen Namen empfinden sie als abwertend. Sie wollen Sinti und Roma genannt werden. Das Wort Zigeuner heißt, wenn man es übersetzt, Unberührbarer oder wandernder Gauner. Das Wort Roma dagegen heißt einfach nur Mensch.

Uns, die Nichtzigeuner, nennen sie Gadsche oder Gadje. Ihre Sprache ist das Romanes und besteht aus vielen Dialekten. Sinti und Roma sind zwei verschiedene Stämme, die vollkommen unterschiedliche Sprachen sprechen. Erst jetzt entwickelt sich langsam eine eigene Schriftsprache. Jahrhunderte lang waren sie auf mündliche Überlieferungen angewiesen. Einst kamen sie auf einem langen Weg aus Nordindien über Ägypten nach Europa. Unseren Sprachraum erreichten sie so etwa im 14. oder 15. Jahrhundert. Man zweifelt daran, daß nur ihr Wandertrieb sie so weit führte. Heute nimmt man an, daß sie überall drangsaliert und verfolgt wurden, so daß sie immer weiter zogen.

In Deutschland fand man auch, daß die Zigeuner nicht ins gewohnte Bild passen. Sie sahen anders aus und hatten andere Sitten und Gebräuche. Man gängelte sie, wo man nur konnte. Aber viele wurden sesshaft bei uns, fügten sich ein, gingen ihrer Arbeit nach, ließen sich als Geschäftsleute nieder und brachten es zu Wohlstand. Andere fühlten sich uns so zugehörig, daß sie in unseren Heeren dienten und etliche den hoch dekorierten Rang eines Offiziers bekleideten. Man denke auch an die großen berühmten Zigeunermusiker und Künstler im Schaugewerbe. Andere, die nicht so sesshaft wurden, zogen mit ihren bunten Wagen von Ort zu Ort, lebten hauptsächlich vom Pferdehandel, vom Teppichverkauf, waren vielleicht Kesselflicker, Bürstenbinder, Korbflechter oder sonsterwas. Viele spielten zum Tanz auf bei den Dorf- und Schützenfesten. So lebten sie unter uns und wurden geduldet; aber selten geliebt. Es lebt sich schwer in diesem Land, wenn man anders ist. Man verzieh ihnen kein Huhn, das sie stibitzten und kein Wäschestück, das sie von fremder Leine stahlen; man sagte ihnen nach, sie seien kriminell und sie würden sogar Kinder entführen.

Dann kam Hitler an die Macht und für die Zigeuner brach das verhängnisvolle Jahr 1936 an. Hitler streute der ganzen Welt noch einmal kräftig Sand in die Augen und rüstete zur großen Olympiade. Er demonstrierte seine Verbundenheit und seine Liebe zu allen Völkern dieser Erde. (wie er selbst sagte)

Zur gleichen Zeit stand für die Zigeuner ein Teufel auf. Der haßte sie, und sie waren ihm ein Dorn im verblendeten Auge. Er war der Reichsinnenminister Wilhelm Frick und einer der treuesten Diener seines schlimmen Herrn. Frick wollte vorangehen, wollte bahnbrechend sein, wollte seine Macht an einer schwachen Minderheit ausprobieren; was ihm perfekt gelang. Der Lehrerssohn stammte aus der Pfalz, wurde 1877 geboren und promovierte zum Rechtsanwalt. Schon sehr früh in den zwanziger Jahren trat er mit Hitler in Verbindung. 1946 verurteilte man ihn als Kriegsverbrecher zum Tode und richtete ihn hin. Seine Asche streute man von einem Flugzeug aus - in alle Winde.

Frick beschloß, rechtzeitig zur Olympiade, ganz Berlin von der Zigeunerplage zu befreien. Er fand große Unterstützung durch Heinrich Himmler, der gerade Polizeichef von Groß-Berlin geworden war. Auch Himmler haßte die Zigeuner und war ein Besessener. Er, der Sohn eines Gymnasiallehrers und Geheimrats, 1900 in München geboren und streng katholisch erzogen, studierte Agrarwirtschaft und fand wie Frick, schon sehr zeitig zum Nationalsozialismus. 1923 war er Röhms Fahnenträger. 1945 verkleidete und versteckte er sich feige, aber man fand ihn bei einer der üblichen Routinekontrollen. In einem britischen Vernehmungslager bei Lüneburg beging er durch Gift Selbstmord.

Am 16. Juni 1936 begann man aus heiterem Himmel die Zigeuner gewaltsam zu internieren. Die meisten wohnten im alten Scheunenviertel Berlins. Man holte sie aus ihren Wohnungen heraus und trieb sie zusammen. Andere, die einen Wohnwagen hatten, mußten anspannen. Wer kein Untergestell mit Rädern mehr besaß, wurde mit Hilfe von Winden auf einen Plattenwagen gehievt. Von Polizeieskorten begleitet, führte man alle aus dem Stadtgebiet heraus nach Marzahn. Dort stand für die Zigeuner der denkbar schlechteste Platz zur Verfügung. Seine Lage alleine war schon eine Beleidigung. Nie im Leben wären sie auf ein, erst vor kurzem noch betriebenes Rieselfeld gezogen, das auch noch direkt neben einem Friedhof lag. Für die Sinti und Roma galt der Platz als unrein.

Auf Anhieb trieb man erst einmal 600 Personen zusammen und 130 Wohnwagen sammelten sich an. Die Zigeuner, die keinen Wohnwagen besaßen, mußten unter den vorhandenen campieren oder in ausrangierte Baracken des Reichsarbeitsdienstes ziehen, die man nur als schäbig und völlig unzureichend bezeichnen konnte. Bald stieg die Zahl der Inhaftierten auf 1000 an. Die Zustände waren spektakulär. Für 1000 Menschen gab es nur drei Wasserstellen und zwei Toiletten. Elend und Krankheiten quälten alle. Krätze, Tuberkulose, Scharlach und Diphtherie brachen aus. Die Verhältnisse waren menschenunwürdig, menschenverachtend und verschlimmerten sich von Jahr zu Jahr. Dabei unterstand das Marzahner Lager, das man ironischerweise "Rastplatz Marzahn" nannte, nicht einmal der Gestapo und der Gauleitung der NSDAP; sondern nur der Berliner Polizei, die auch das strenge Wachpersonal stellte.

Die so genannte Betreuung lag in den Händen des Hauptwohlfahrtsamtes. Ab 1937 befanden sich fast nur noch Frauen und Kinder in Marzahn; denn die Männer deportierte man zur Vorbeugung der Verbrechensbekämpfung in die inzwischen errichteten Konzentrationslager. Die Wohlfahrt stellte den Antrag, auch aus dem Rastplatz Marzahn ein KZ zu machen, aber seltsamerweise unterblieb das. Herr Rosenberg hatte mir aber versichert, daß Marzahn zeitweise noch schlimmer war. Dabei blieb Marzahn noch irgendwie offen. Es gab zum Beispiel keinen Elektrozaun, sondern nur Stacheldraht. Aber kein Zigeuner wagte, zu fliehen. Man hätte ihn auch sofort erkannt und ihn und seine gesamte Familie in ein KZ überstellt. Viele wurden zur Zwangsarbeit außerhalb des Lagers gezwungen. Sie arbeiteten in einer nahe gelegenen Kiesgrube, beim Bombenräumen oder auch in der Alt-Marzahner Baufirma Hasse und Wrede. 1941 versetzte man den einzigen Lehrer und stellte den Schulbetrieb vollkommen ein. Es herrschten Seuchen, Hunger und Kälte, denn die meisten Wohnwagen und Baracken ließen sich nicht beheizen.

Anfang 1943 gliederten die Nationalsozialisten dem Konzentrationslager Auschwitz das Nebenlager Birkenau an, welches hauptsächlich für Zigeuner und deren Ausrottung eingerichtet wurde. Dahin kamen nun fast alle Sinti und Roma vom Rastplatz Marzahn. Marzahn entwickelte sich zu einer Vorstufe zu Birkenau und zum Durchgangslager. Ende 1943 gab es keine Zigeuner mehr, die man noch hätte einfangen können. Die Schornsteine in Auschwitz rauchten ununterbrochen, und der Wind wehte die Asche übers Land.

Fast alle Marzahner Gefangenen sind in Auschwitz-Birkenau umgekommen. Marzahn war fast leer. Man hat sie in Birkenau verhungern lassen oder erschlug sie, vergaste sie oder mißbrauchte sie für medizinische Versuche. Die Frauen und Mädchen sterilisierte man zwangsmäßig, was die meisten nicht überlebten. Alleine in Auschwitz-Birkenau ermordete man von 23 000 Sinti und Roma 18 0000. Manchmal in einer einzigen Nacht über 1000. Insgesamt fanden eine halbe Million Zigeuner unter dem Nationalsozialismus den Tod. Es gab ja noch viele andere Vernichtungslager, wie Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen, um nur einige zu nennen.

Seltsamerweise fand die russische Armee bei der Befreiung noch etwa zwei Dutzend Zigeuner in Marzahn vor. In einer kleinen Baracke, die nicht abgebrannt war, hatten sie ausgemergelt und verstört überlebt.

Rudolf Höss, der langjährige Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz bei Krakau und auch der Erbauer der Lagerangliederung Birkenau, schuf die größten Menschenvernichtungsanlagen der Welt und aller bisherigen Zeiten. Die Engländer verhafteten ihn 1946 bei Flensburg. Im Mai des gleichen Jahres lieferte man ihn nach Polen aus. Im April 1947 sprach das Oberste Gericht das Todesurteil über ihn. 14 Tage später vollstreckte man es durch den Strang am Galgen des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz - seinem alten Hoheitsgebiet.

Während seiner Untersuchungshaft in Krakau, brachte Höss umfangreiche Lebenserinnerungen fast akribisch zu Papier. Er schildert sich darin als offenen, grundanständigen Menschen, gefühlvoll und pflichtbewußt. Er versichert, daß ihm die Zigeuner eigentlich die liebsten Häftlinge gewesen sind. Sie waren unkompliziert, genügsam und oft sogar fröhlich, und die Kinder waren so zutraulich zu den SS-Ärzten, die ihnen die Todesspritze gaben. Wir Gadsche tun uns schwer mit der Erinnerung an das Leid der Sinti und Roma - und mit der Wiedergutmachung auch -. Welcher Gadsche kennt schon den Sinti - Stein auf dem Parkfriedhof in Marzahn ? Kaum einer.

Er liegt auch so bescheiden abseits. Er soll an die Leiden der Insassen des Zigeunerlagers "Rastplatz Marzahn" erinnern; aber er spricht lauter über die ruhmreiche Sowjetarmee.

 

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