Foto - Hanne (1940)

  

  Es liegt förmlich in der Luft, dass das kleine Haus, welches so unscheinbar aussieht, abgerissen wird. Ich meine das kleine Häuschen an der Treskowallee vor der Grünanlage des Kulturhauses, zwischen Dönhoffstraße und dem Bahndamm. 

  Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts (wie sich das anhört) baute man es liebevoll, Stein auf Stein, zu einem schmucken modernen Häuschen hoch, das dann zwei kleine elegante Läden beherbergte. Der Eingang lag, wie noch heute, nur anders anzusehen, in der Mitte. Vom Eingang aus nach rechts, konnte man in ein Foto-Geschäft gehen, nach links in einen wohl ausgestatteten Buchladen. Man konnte dort neue Ausgaben erstehen oder sich der Leihbücher-Abteilung zuwenden, die großen Zuspruch fand – hauptsächlich unter den Karlshorster Damen. Das sehr ansprechende kleine Gebäude wurde sofort bekannt unter dem Namen Foto-Hanne, denn Hanne war der Familienname des Besitzers. Er genoss größtes Ansehen in Karlshorst und jeder kannte Foto-Hanne.

  Die meisten Karlshorster ließen dort ihre Filme entwickeln, kauften, wenn sie es sich leisten konnten, einen neuen Fotoapparat, ließen ihre Einsegnungs-, Kommunions- und Hochzeitsbilder dort machen – kauften oder liehen dort ihren Lesestoff und versorgten sich zu Silvester mit Knallfröschen, Kanonenschlägen, Raketen, Luftschlangen und lustigen Hüten. Jedes Kind kannte Foto-Hanne. 

  Foto-Hanne residierte in allerbester Karlshorster Geschäftslage. So wie auch heute gab es schon damals das größte Menschengewimmel um den Bahnhof herum. Da fuhr die schnelle S-Bahn, die vielmehr als heute benutzt wurde und da hielt auch die 69er Straßenbahn. Es war ein ewiges Hin- und hergerenne und gute Geschäfte und gemütliche bürgerliche beliebte Restaurants lockten die Karlshorster an. Und dann war da in der Nähe des Bahnhofs auch die große Zeit der beiden Kinos in unmittelbarer Nähe des kleinen Hauses. Zuerst war da das Gloria, das im heutigen Kulturhaus lag. Man erreichte es durch die kleine Grünanlage hinter Foto-Hanne und musste zum Kino-Eingang eine Treppe emporsteigen. Viele Male bin ich mit angstvoll klopfenden Herzen da hochgeklettert um mich als Dreizehnjährige in eine Vorstellung zu schummeln, die erst für Vierzehnjährige zugelassen war. Leider, leider hütete die große Schwester meiner Schulkameradin Carmen Viehrat den Eingang mit Argusaugen und ertappte fast alle Sünder. Gnadenlos wurden wir aussortiert und man verweigerte uns den Eintritt. Es herrschten damals strenge Jugendschutzgesetze – aber ab 16 durfte man dann selber töten – oder getötet werden. Es war eine verrückte Welt. 

  Der zweite, noch größere Palast der Illusionen, war das neu erbaute chromblitzende wundervolle Ufa-Uraufführungskino Kapitol. Man fand es, wenn man unter der S-Bahnbrücke hindurchging, auf der Rennbahnseite, ein paar Schritte vor deren Eingang. Heute findet man es nicht mehr – es wurde, nachdem es total heruntergekommen war, vor kurzer Zeit abgerissen.

  Ganz in Bahnhofsnähe und dadurch auch ganz in Foto-Hannes Nähe, stand auch noch das größte Tanzlokal von Karlshorst, das »Deutsche Haus«, in dem alle ansässigen Vereine, die etwas auf ihr Ansehen hielten, ihre Festlichkeiten abhielten. Der große Tanzsaal hat den Zweiten Weltkrieg überlebt und ist heute der Theatersaal des Theaters Karlshorst.

  Klein aber fein sonnte sich Hannes Häuschen in der guten Nachbarschaft. 

  1934 fing meine Schwester Gisela, die 10 Jahre älter war als ich, bei Hanne eine Foto-Lehre an. Es gefiel ihr großartig, das Arbeitsklima war außerordentlich gut und familiär. Nach 1½ Jahren Ausbildung wurde meine Schwester, trotz der Freude an der Arbeit, immer blasser und kränklicher. Als dann noch Ohnmachtsanfälle dazu kamen, standen meine Eltern vor einem Rätsel. Eines Tages ließ unser Hausarzt, ein Dr. Schmidt aus Altfriedrichsfelde, einen Krankenwagen kommen und sie in das noch ganz neue Sankt Antonius-Krankenhaus einliefern. Zu ihrem Glück lag sie dort an allerbester Stelle und in allerbesten Händen. Man hatte dort den großen Wert des Lichtes, der Sonne, der frischen Luft, der Gymnastik und ausgewogener Diät erkannt und als Heilmethode bei den Patienten praktisch angewendet. Zum Segen ihrer Schützlinge nutzten die frommen katholischen Schwestern die Heilkräfte der Natur.

Meine Schwester musste viele Sonnenbäder auf einer Dachterrasse oder im Garten auf einem Liegestuhl nehmen. Man verwöhnte sie mit Obst und Säften, Milch und Honig. Nach etlichen Wochen war sie vollkommen genesen. Man bat dann meine Eltern zu einem Gespräch ins Arztzimmer und teilte ihnen mit, meine Schwester müsse unbedingt ihre Foto-Lehre aufgeben. Der lange Aufenthalt in der Dunkelkammer sei für sie das reinste Gift. Meine Eltern hielten sich an den Rat und kündigten den Lehrvertrag. Herr Hanne, der meine Schwester Gisela schätzte und nicht verlieren wollte, redete ihr zu, bei ihm doch einfach die Seite zu wechseln und statt Fotografin Buchhändlerin zu werden.

  So geschah es – und für mich wurde diese Zeit prägend für mein ganzes Leben. Das kleine Haus wurde von nun an der Tempel meiner Leselust!

 Kein Mensch im Hanne-Häuschen hatte etwas dagegen, wenn ich Gisela oft und lange, während der Arbeitszeit besuchte. Der Laden war, wenn man ihn mit den heutigen Riesengeschäften vergleicht, winzig – aber für mich – ich war ja noch klein, war er eine heilige Halle voller Wunder. Zuerst kam meine Leserei nur mühsam von der Stelle – aber geschwind wurde es besser, fließender. Ein neues Leben, ein neues Land, eine neue Welt eröffnete sich mir. Ich wurde wie süchtig nach Lesen. Dort hielt ich zum aller ersten Mal meinen geliebten Nils Holgersohn in den kleinen Händen. Weihnachten lag er dann für mich unterm Tannebaum. Mein Vater, der mir gerne vorlas, hat mir den ganzen dicken Wälzer Wort für Wort vorgelesen. Ich lernte nach und nach alle Kinderbücher kennen und lieben: Den Robinson, die Schatzinsel, den Pfadfinder, das Nesthäkchen, dessen Autorin Else Ury später im KZ elendiglich umkam, weil sie Jüdin war – und ich las den Trotzkopf, das Nibelungenlied und Max und Moritz.

  Damals konnte man die neuen Bücher noch nicht in Folie einschweißen- dieses Verfahren kannte man noch lange nicht. Alle Bücher konnte man aufschlagen. O- was für ein wonnigliches Gefühl ist es doch, als erster Mensch ein neues Buch aufzuschlagen und den köstlichen Duft der Druckerschwärze einzuschnuppern. Die heutige riecht anders – nicht mehr so viel versprechend – nicht mehr so verheißungsvoll. 

  Sehr viele Jahre sind seit damals vergangen. Als der Krieg aus war, gab es Foto-Hanne nicht mehr. Die beiden kleinen Läden waren ausgeplündert, ramponiert – und nie wieder neu entstanden.

  Aber dort in dem kleinem Haus lernte ich, dass Bücher meine besten Freunde sind – auch heute noch. Durch sie kann ich an allem teilhaben – an den größten Abenteuern, ohne mein Haus zu verlassen. Mit jedem guten Buch halte ich ein Stück eingefangener Welt in den Händen. Danke, kleines Haus.

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