Bomben auf Lichtenberg (1942)

 

Für meinen Buddelkastenfreund Wölfchen und für mich, war es ein Riesenvergnügen, als es hieß, es muß in jedem Haus ein Luftschutzkeller eingerichtet werden. Kam man bei uns die Kellertreppe runter, lag der Raum, den man dazu bestimmt hatte, rechts um die Ecke und dann gleich geradezu.

Genau über ihm befand sich unser Wohnzimmer. Der Notausgang, ein Kellerfenster über ebener Erde, lag unter unserem Balkon. Davor baute man von der Gesellschaft unserer Kriegerheimsiedlung aus, eine dünne Betonplatte, die als Splitterschutz dienen sollte. Sie war nicht mehr als ein Zeichen des guten Willens, ein Witz eigentlich nur. Handwerker kamen und maßen die Decke und die Wände; interessiert beobachtet von Wölfchen und von mir. Wasserbottiche, gefüllt natürlich, Feuerpatschen und Löschsand mußten bereitstehen - und dann ging's ans Einrichten unseres neuen Gemeinschaftsraumes.

In unserem Haus lebten sechs Mietparteien. Mehrere Familien zogen es vor, vielleicht wegen der räumlichen Enge, ihren eigenen Keller herzurichten. Das war nicht verboten. Wir entschlossen uns für den Luftschutzraum und Wölfchen Biens Eltern auch. Jeder brachte sich mit, worauf er sitzen wollte. Meine Eltern schleppten Korbsessel, ein kleines rundes Tischchen und ein Sofa herbei, auf dem dicke Wolldecken und Kissen lagen. Die Wände schmückten wir mit Bildern und auf den kahlen Zementboden legten wir ausgediente Teppiche.

Wir amüsierten uns prächtig, wenn es Probealarm gab. Quietschvergnügt trafen sich dann alle Mieter im Keller und freuten sich, mal gemütlich und in aller Ruhe quatschen zu können. Mit Spannung verfolgten Wölfchen und ich die Gespräche der Erwachsenen und sperrten besonders weit die Ohren auf, wenn Witze erzählt wurden - und die erzählte man reichlich. Besonders Goebbels nahm man wegen seiner vielen Frauengeschichten gerne aufs Korn und Göring bot eine gute Zielscheibe für Witze, weil man seine Prunksucht und Eitelkeit so gut kannte. Man tuschelte: »Haben Sie schon gehört, daß die Siegessäule erhöht werden soll?« »Nein - warum das denn?« »Na, das ist die letzte Jungfrau in Berlin und an die soll Goebbels nicht rankommen können!«

Und noch ein Witz machte die Runde: Göring bereist den Teutoburger Wald und erblickt in der Ferne ein großes Bauwerk. Er fragt: »Was ist denn das?« Man antwortet: »Das ist das Hermannsdenkmal!« Göring ist gerührt und sagt bescheiden lächelnd: »O, das wäre doch für die paar Tage nicht nötig gewesen.«

Oder wir spielten beide, denn wir waren ja noch keine 10 Jahre alt. Das schönste Spiel für uns war an sich schon der Probealarm. Es war gar kein Krieg und wir trafen diese kriegerischen Vorbereitungen. Ich glaube, es war im Jahr 1938. Wir hatten jedenfalls einen behaglichen Gemeinschaftsraum.

Meine Mutter mußte einen Kursus mitmachen, der sie zum stellvertretenden Luftschutzwart ausbilden sollte. Von einem dieser Schulungsabende, an dem man sie für ihr hohes Amt entsprechend eingekleidet hatte, kam sie in neuer voller Monteur sehr stolz nach Hause.

Nachdem mein Vater einen einzigen Blick auf sie geworfen hatte, fiel er in einen Lachkrampf und kriegte sich lange Zeit nicht in den Griff. Er brüllte vor Lachen und wieherte vor Vergnügen. Er wurde hochrot im Gesicht und hielt sich seinen stattlichen Bauch, der richtig wackelte. Zwischendurch rang er manchmal ächzend nach Luft - immer abwechselnd.

Meine kleine rundliche Mutter sah auch wirklich zu komisch aus. Sie steckte in einer dunkelblauen Kombination und auf dem Kopf trug sie einen Stahlhelm. Seitlich umgehängt baumelte eine Gasmaske. Unter einem Arm steckte ein großer Erste-Hilfe-Kasten. Der Ausbruch meines Vaters beleidigte sie schwer und der Haussegen hing einige Tage schief. Die Verkleidung zog sie nie wieder an und vor dem Amt des stellvertretenden Luftschutzwarts drückte sie sich mit Erfolg. Leider habe ich vergessen, welche glaubwürdige Ausrede ihr einfiel.

Heimlich nutzte man den Luftschutzkeller auch für andere Zwecke. Ich schlich mich im Sommer manchmal mit meinen Puppen hinein um zu spielen, weil es in ihn so schön kühl war. Meine Schwester Gisela, bedeutend älter als ich, dehnte seine Benutzung noch viel weiter aus. Mir kommen da Vermutungen, über die ich gar nicht weiter nachdenken will. Sie hatte damals einen neuen Freund. Der hieß Gerhard und die beiden trafen sich fleißig und gingen aus. In einer Nacht schlugen meine Eltern mächtigen Krach, weil meine Schwester erst um Mitternacht von ihm nach Hause gebracht wurde.

Das Nachhausbringen war damals eine Selbstverständlichkeit. Aber um 8.00 Uhr wollte Gerhard Gisela schon wieder zu einem Sonntagsausflug abholen. Und wirklich: Um 8.00 Uhr stand Gerhard auf der Matte vor der Korridortür. Meine Eltern waren total verblüfft, denn Gerhard wohnte am Wedding - hatte immerhin einen ziemlich weiten Weg. Sie ahnten nicht, daß Gerhard die Nacht in unserem Luftschutzkeller verbracht hatte. Da es im Kellergeschoss auch eine Toilette und Waschgelegenheit gab, war das gar kein Problem für ihn gewesen.

Das heimliche Gemunkel über einen drohenden Krieg nahm zu. Wir Kinder lauschten fasziniert. Das hörte sich nach Abenteuer an. Wir waren nun 10 Jahre alt und Mitglieder des Jungvolkes und der Jungmädchen. Da erzählte man bei den Heimabenden viel von Ehre und von Treue zum geliebten Führer.

Man sprach von Feinden, die uns überfallen wollen, von Kameradschaft und von Heldentod; möglichst noch mit einem Lied auf den bleichen Lippen. Es mußte phantastisch sein, fürs Vaterland sterben zu dürfen, denn der dank war einem sicher bis in alle Ewigkeit. Und alle würden singen: Ich hat einen Kameraden... und erst mal so richtig merken, was sie an mir verloren hatten.

Als der Krieg am 1.September 1939 wirklich ausbrach, ging für mich ein Traum in Erfüllung. Und das kam so: Ich ging zwar sehr gerne zur Schule, aber ich hoffte doch schon etliche Jahre vergeblich, daß meine Mutter eines Morgens vergessen würde, mich zu wecken. Ich gab den Traum nie auf, daß das, allen Erfahrungen zum Trotz, passieren würde.

Am 1.September 1939 war es soweit! Ich schielte auf den Wecker. Tatsächlich! ich hatte verschlafen - meine Mutter hatte vergessen mich zu wecken; aber sie war da - ich hörte sie in der Küche rumklappern. Ich blieb mucksmäuschen still im Bett liegen und freute mich. Plötzlich kam sie ins Schlafzimmer - ich kniff krampfhaft die Augen zu und stellte mich schlafend. Aber sie beachtete mich gar nicht. Sie öffnete das Fenster. Draußen hörte ich die Kinder quatschen, die zur Schule gingen. Meine Mutter rief ihnen laut zu: »Ihr könnt wieder nach Hause gehen - die Schule fällt aus - es ist Krieg!« Ich schrie: »Was? Krieg?« und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Meine Begeisterung schlug Purzelbäume, als es am zeitigen Abend des gleichen Tages, den ersten Fliegeralarm gab. Natürlich glaubten alle an eine Übung - aber es war keine. Zwei polnische Flugzeuge hatten es gewagt, Berlin zu überfliegen. Sie warfen keine Bomben ab - vielleicht wollten sie nur mal ausprobieren, wie das so geht. Polnische Maschinen kamen, glaube ich, nie wieder.

Die Situation änderte sich. Alle unsere hübschen Sachen schmiss man aus dem Luftschutzkeller raus. Handwerker kamen, um mit Balken die Decke abzustützen. 4 Betten, 2x2 übereinander stellte man hinein. Die Matratzen mit Stroh gefüllt, schienen uns wenig verlockend. Holzstühle und ein Tisch durften wieder hinein, aber Teppiche verpönte man wegen der Brandgefahr. Der Splitterschutz, vor dem Fenster unter unserem Balkon, bekam eine dicke Verstärkung in Form eines großen mit Sand gefüllten Kastens, aber mit der Möglichkeit, aus den Fenster klettern zu können und rechts und links vom Sandkasten vorbeischleichen zu können, um zu flüchten. In die Wand zum Nebenhaus schlugen die Arbeiter einen Durchbruch und mauerten ihn nur in Leichtbauweise wieder zu. Notfalls, sollte es nötig sein, etwa bei einem Brand oder verschütteten Ausgängen, konnte man ihn eindrücken und sich ins Nebenhaus retten.

Im Grunde war alles Blödsinn, denn der Keller lag einfach viel zu hoch. Irgendwie verlor die ganze Sache ihre Lustigkeit, je länger der Krieg dauerte. Immer öfter gab es Alarm und wir huckten im Keller. Mein einziger Trost war, daß wir am nächsten Morgen später in die Schule mußten. Die Männer standen meistens an der zweiten Kellergangtür, die in den Garten führte und beobachteten den Himmel und die Scheinwerfer, die ihn nach feindlichen Flugzeugen absuchten. Einmal sah ich selbst einen der Todesengel im Kreuz der Scheinwerfer. Schaudernd stürzte ich in den Schutz des Kellers.

Dann hörten wir von schrecklichen flächendeckenden Bombenangriffen auf Großstädte in Westdeutschland. Onkel und Tanten schrieben in ihren Briefen von Trümmern, Leid und Not.

Ganz in unserer Nähe im Triftweg, fast an der Treskowallee, waren in der Zwischenzeit zum Schutz der Bevölkerung zwei große Flachbunker entstanden. Die konnte jeder, der wollte, bei Fliegeralarm aufsuchen. Mein Vater, der immer bei Alarm in der Fleischfabrik Brandwache halten mußte, er brauchte nicht Soldat zu werden, traute unserem Luftschutzkeller nicht mehr und sprach ein Machtwort. Er bestimmte, daß meine Mutter, meine Schwester und ich, bei jedem Fliegeralarm rüber in den Bunker zu gehen hatten. Er behauptete, unsere Kriegerheimsiedlung, heute heißt sie Splanemannsiedlung, läge zu ungünstig im Gelände. Und das stimmte. Sie lag neben der Fabrik, die für die Wehrmachtsversorgung Fleischkonserven produzierte, neben eine großen schweren Flakstellung, unmittelbar neben Bahngleisen und auch noch in der Nähe zweier Brücken. Also gut - wir schleppten unser Notgepäck bei jedem Fliegeralarm rüber in den Bunker.

Jeder hatte ein Notgepäck. Meine Mutter buckelte einen mittelschweren Koffer, mit dem, was ihr am wichtigsten erschien, wie Wäsche zum Wechseln und ihre Handtasche mit den Familienpapieren und ihren bescheidenen Schmuck. Ich war eigentlich völlig beruhigt und frei von Angst, denn unser dicker Reichsmarschall Hermann Göring, der sich immer so schön herausputzte, hatte feierlich versichert, daß er Meier heißen wolle, wenn je ein feindliches Flugzeug den Sperrgürtel um Berlin durchbrechen könne. Und wer wollte schon freiwillig Meier heißen, wenn er den schönen Namen Göring trug: Aber von der Nacht zum 8.6.1940 ab, hieß er unter vorgehaltener Hand doch Meier. Ein einzelnes französisches Flugzeug, ein Farman-Hochdecker 2234, auf dessen Rumpf "Jules Verne" stand, war durchgekommen und hatte seine Bombenlast auf Berlin abgeladen. Ab und zu fielen schon mal vereinzelt Bomben auf unsere Stadt, aber verhältnismäßig wenig. Ich hatte auch noch nie gesehen, wie ein bombengeschädigtes Gebäude aussah. In den Zeitungen erschienen keine Bilder, denn man vertuschte die Sache möglichst. Der Bevölkerung war es bei Androhung hoher Strafen verboten, eigene Fotos zu machen. Man behauptete, das wäre Sabotage, Spionage, Volksverhetzung und ähnliches mehr.

Am Anfang des Krieges gab es zwar viele Fliegeralarme in Berlin, aber es flogen meistens nur feindliche Flugzeuge über die Reichshauptstadt, die Flugblätter abwarfen.

Im Spätsommer 1940 wendete sich das Blatt für Berlin. Nun gab es auch echte schwere Bombenangriffe mit großen Zerstörungen und vielen Toten und Verwundeten. Es kam vor, daß wir vier oder fünf Stunden nicht aus den Schutzräumen raus durften. Wir im Bezirk Lichtenberg waren noch glimpflich davongekommen. Es waren zwar schon mal Bomben gefallen, aber die hatten keinen bedeutenden Schaden angerichtet. Es sah so aus, als würde der Bombenterror der Engländer einen Bogen um Lichtenberg machen. Es kamen hauptsächlich englische Bomber, die im Schutze der Nacht über Berlin ihre Bombenlast abluden.

Die Verdunklung wurde nun sehr ernst genommen. Jedes Fenster mußte lückenlos mit Decken oder Rollos verhangen werden. Die Blockwarte liefen kontrollierend um die Häuser und jeder, der nicht vorschriftsmäßig verdunkelt hatte, bekam eine saftige Anzeige.

Für uns Kinder spielte das Sammeln von Flaksplittern eine immer größere Rolle; wir suchten die ganze Gegend nach ihnen ab. Wer den größten fand, war der heißbeneidete Sieger, genoss es dementsprechend und gab mächtig an.

Ich selber fühlte mich am 17.7.1941 von Stolz durchdrungen, denn an diesem Tag wurde meine aufopferungsvolle Arbeit und mein Einsatz für Volk und Vaterland entsprechend gewürdigt. In der Aula des Kant-Gymnasiums verehrte mir mein Rektor Paul Loeper das Buch "Heidis Lehr- und Wanderjahre", als Anerkennung für treue Dienste in der Altstoffsammlung.

Wochenlang hatte ich mich mit einem Handwagen wie ein Lumpenhändler alles bei den Mietern eingesammelt, was wieder verwertet werden konnte. Altpapier, Lumpen, alle Arten von Metall und ausgekochte Knochen, hatte ich in die Schule gekarrt - bis ich Siegerin wurde. Das Buch halte ich noch immer in hohen Ehren, schon alleine wegen der Widmung.

Mein umsichtiger Vater konnte uns eine Luftlagekarte besorgen. Eigentlich war es verboten, so eine Karte zu besitzen, aber viele Leute hatten sie doch. Diese Karte war in Planquadrate eingeteilt, die über dem deutschen Reich lagen und mit Buchstaben gekennzeichnet. Ich glaube, es war damals der Drahtfunk, der immer die Luftlagemeldungen durchgab. Wenn es hieß, »feindliche Bomberverbände im Anflug auf Hannover-Braunschweig«, dann griffen wir unsere Koffer und liefen langsam los, Richtung Bunker - wenn es hieß, »Gustav, Gustav« war es fast schon zu spät.

Im Jahr 1941 mußten wir ganz schön leiden unter den Bombenalarmen; dagegen blieben wir 1942 weitgehend verschont. Über das ganze Jahr verteilt, gab es nur 9 Fliegerangriffe auf Berlin und wir dachten schon, ach, es wird nicht so schlimm werden.

Alle Leute aus unserem Haus gingen nicht in den Bunker. Auch Biens blieben im Haus, meistens sogar im Bett und suchten nur den Luftschutzkeller auf, wenn ihnen die Situation besonders brenzlig erschien.

So war es auch am letzten Wochenende im August 1942, in der Nacht vom 29. zum 30.

Die Sirene vom Dach des Kant-Gymnasiums riss uns mit ihrem auf- und ab schwellenden Ton brutal aus dem Schlaf. Vollalarm. Im Nu war man hellwach. Wir schlüpften in die bereitliegende Kleidung, griffen unser Gepäck und hetzten in den Bunker, mein Vater in die Fabrik. Biens blieben im Bett. Wir gingen immer in den linken Bunker, von unserer Wohnung aus gesehen. Jeder Bunker hatte zwei Eingänge, die man mit dicken Eisentüren verschloss, wenn all drin waren, die rein wollten, oder wenn es gefährlich wurde. Hinter jeder Eisentür lag ein Raum, den man Schleuse nannte. Darin blieben meistens der Bunkerwart und seine Helfer.

Durch eine zweite schwere Eisentür gelangte man in die eigentlichen Schutzräume. Zuerst kam man immer in einen etwas größeren Gemeinschaftsraum, einen an jedem Bunkerende. Dort befanden sich auch Toiletten und Waschabteilungen. Zwei Gänge, von denen rechts und links Kabinen abgingen, verbanden die großen Räume. In den winzigen Zimmern, die wir Kabinen nannten, standen 2x drei Betten übereinander mit blau-weiß-karierter Bettwäsche ausgestattet und zwei Holzhocker. Jeden Abend zogen angemeldete Mütter mit kleinen Kindern dort ein, verbrachten eine ungestörte Nacht und gingen früh ausgeschlafen heim.

Es war alles wie immer. Ich quatschte mit Freundinnen oder döste auf meinem Holzhocker in dem großen Gemeinschaftsraum , der der Treskowallee zugewandt lag, vor mich hin. Durch die dicken Wände hörte man unsere Flak ballern wie verrückt.

Aber das tat sie oft.

Plötzlich brach die Hölle los mit lautem Krachen und Bersten. Das Licht ging aus und aus der Außenwand spieen Funken. Der ganze Bunker schwankte etwas wie ein Schiff auf See. Frauen und Kinder kreischten vor Entsetzen in der Finsternis. Ich glaube, ich auch, denn ich erinnere mich an schreckliche Angstgefühle. Die Einschläge der Bomben, wir wußten sofort, daß das nur Einschläge sein konnten, wiederholten sich mehrmals und wir glaubten, draußen, außerhalb der Bunker, ginge die ganze Welt unter - dann Totenstille und Dunkelheit - Die Notbeleuchtung des Bunkers sprang an und das Licht beruhigte uns alle.

Der Bunkerwart und seine Helfer riefen immer wieder: »Seid ruhig, der Bunker ist sicher. Es geschieht euch nichts!« Langsam legte sich die Aufregung und die Kinder weinten leiser. Dann schrie die erste Frau: »Das waren Bomben - was ist draußen los?« Der Bunkerwart schrie zurück: »Wenn es ruhiger ist, machen wir eine Tür auf und sehen nach!« Da fiel mir auf, daß meine Mutter, ohne sich zu rühren und ohne einen Ton zu sagen, weiß wie eine Wand, auf ihrem Hocker saß. Wie versteinert! Panik stieg in mir hoch. Papa! Mein Papa war draußen in der Fabrik. War er tot? Ich weiß noch, daß ich anfing zu schreien. Ich schrie und schrie, bis eine fremde Frau mich nahm und durchschüttelte und auch schrie: »Hör auf - wir wissen doch noch gar nichts«. Da hörte ich auf. 

Dann ging ein Gerufe durch den Bunker: »Die Fabrik ist getroffen und das erste Haus der Kriegerheimsiedlung!« Das war unseres. Ich erstarrte genau wie meine Mutter. Still saßen wir nebeneinander. Ich glaubte, mein Papa sei tot. Aber da ging plötzlich die Tür auf und er trat ein. Man hätte ihn für sein eigenes Gespenst halten können - aber er war es wirklich. Blut war nicht zu sehen, er hatte keinen Kratzer erlitten. Er war vollkommen mit Zementstaub bedeckt; nur die abgeleckten Lippen und die verklebten tränenden Augen zeigten natürliche Farben. Er umarmte meine Mutter und mich und sagte: »Ich lebe - das wollte ich euch nur sagen. Ich muß wieder raus. Wir buddeln nach Frau Sattler - die ist verschüttet.« Meine Mutter und ich waren wieder fähig, normal zu empfinden.

Dann kam der lang gezogene Sirenenton der Entwarnung. Alles strömte aus dem Bunker. Rufe des Erschreckens wurden laut. Als wir endlich heraustraten, starrten wir auf das Bild der Verwüstung. Zuerst mußten wir an der Fabrik vorbei. Die ganzen vorderen Gebäude an der Front des Triftweges lagen in Trümmern; das Wohnhaus war nur noch ein Steinhaufen. Die gefangenen Franzosen, mein Vater, andere Männer und der Fleischermeister Sattler waren dabei, seine Frau auszubuddeln. Sie war nie in den Keller gegangen. Man fand sie auch, in dem steinigen Schutthaufen. Sie schrie und schrie. Eine Brust war abgerissen und sie verstarb kurz danach. Auch die Kocherei der Fabrik war zerstört und der schöne in Chrom und Messing blitzende Fleischerladen mit den riesigen Schaufenstern stand nicht mehr.

Angstvoll suchten unsere Augen unser eigenes Zuhause. Die Giebelwand der drei übereinander liegenden Wohnungen hatte die Wucht der Detonation einer Luftmine in Fetzen gerissen. In mir flüsterte eine ganz kleine verschreckte Stimme leise: »Wölfchen!« In seine Wohnung konnte man nun hineinsehen. Wie in Trance liefen wir zu unserem Haus. Der Triftweg glich vor der Unglücksstelle einer Schutthalde; er war übersät mit Mauerbrocken, Glasscherben, Dachziegeln, verbogenen Regenrinnen und zerborstenen Holzbalken. Voller Angst kletterten wir über alles hinweg und atmeten vor Erleichterung tief durch, als wir auf der anderen Straßenseite , vor dem kleinen Wasserwerk, die komplette Familie Bien, vollkommen grau verdreckt, stehen sahen. Ganz bedeppert vom Geschehen - von Nichtbegreifenkönnen und sprachlos durch den Schock, standen alle vier bewegungslos da und starrten die Ruine ihrer Wohnung an. Auf wunderbare Weise hatten sie überlebt; nur Herr Bien trug eine leicht verletzte Ferse davon, schmerzhafte Prellungen und Blutergüsse an Armen und Beinen. Später, als sich die allgemeine Verstörtheit legte, erzählten sie uns, was sie erlebt hatten.

An diesem Tag, der so schrecklich begann, wollten sie eigentlich verreisen. Vor dem Fliegerangriff lagen im Wohnzimmer die Wäsche- und Kleiderstapel bereit zum Einpacken in die Koffer und ein leckerer Kuchen, als Mitbringsel, war am Abend vorher gebacken worden. Wie schon gesagt, gingen sie bei Fliegeralarm nur in den Keller, wenn es brenzlig wurde. So auch in dieser Nacht. Als das Gejaule der Sirene auf- und abschwoll, blieb Herr Bien in seinem Bett, direkt hinter der Giebelwand. Helmut, der ältere Sohn, der zusammen mit Wölfchen das kleine Zimmer neben dem Treppenhaus bewohnte, schlief auch weiter.

Frau Bien saß in der Küche, die zum Garten hin lag und machte im Schein einer kleinen Lampe am Küchentisch Handarbeiten. Wölfchen fungierte als Wachposten. Er stand im finsteren kleinen Zimmer am unverdunkelten Fenster und beobachtete, was draußen so los war. Ein sternklarer Himmel wölbte sich über der Stadt. Er rief seiner Mutter zu, daß er in der Ferne Explosionen von Flakgeschossen sehen könne. Die Mutter kam nachsehen und sagte: »Wir müssen uns fertigmachen - sie kommen näher«, und sie ging den Vati wecken: »Steh auf - die kommen näher!« Aber der Vati blieb liegen. Unsere Flak auf der großen Wiese und auf den Sportplätzen, fing wie verrückt zu ballern an. Wölfchen zog sich im kleinen Zimmer die Schuhe an; während seine Mutter mit einer Taschenlampe im Türrahmen stand und ihm leuchtete. Als sich Wölfchen wieder aufrichtete, verspürte er einen ganz starken Luftzug, so ähnlich, wie man ihn in der U-Bahn fühlt, wenn der Zug einfährt - nur viel stärker.

Instinktiv duckte er sich wieder und fühlte auf einmal, daß Mauerwerk auf seinen Rücken prasselte. Wie blind tastete er um sich herum und hatte plötzlich ein Bein in der Hand. Er befühlte es und merkte, daß es das Bein seines Bruders war, der aus dem Bett gesprungen war und ihn nun fragte, ob ihm etwas passiert sei. Wölfchen hatte Mühe, ihn zu verstehen, denn durch die Wohnung und um das ganze Haus zog ein furchtbares angsteinflößendes Rauschen und Poltern. Der Schutt, der heruntergefallen war, hatte die Tür vom kleinen Zimmer zum Korridor zugesperrt, aber durch die Ritze fiel der beruhigende Lichtstrahl von Mutters Taschenlampe und die Jungen hörten die besorgten Rufe der Mutter. Mit bloßen Händen buddelten sich die Jungen frei und krabbelten in den Korridor. Der hatte mit seinen vollkommen geblieben Wänden die Mutter beschützt. Sie war überglücklich, Wölfchen und Helmut unverletzt durch den Dreck auf sich zukriechen zu sehen. Und da kam auch schon der Vater aus der Maueröffnung, in der einmal die Tür zum Schlafzimmer gesessen hatte, angewankt - vollkommen geschockt. Benommen stürzten sie alle vier die Treppen runter und stellten sich auf die andere Straßenseite vor das kleine Wasserwerk und stierten stumm auf das Trümmerfeld - und auf ihre eigene Ruine.

Die Wunde an Herrn Biens Bein machte ihm viele Beschwerden und erwies sich erst viel später als ein eingedrungener Tapetennagel. Im ganzen Haus gab es glücklicherweise keine weiteren Verletzten. Fersenheims, die über Biens wohnten, hasteten, wenn die Sirene noch nicht ausgeheult hatte, sich fast überschlagend, in ihren eigenen kleinen Keller an der Giebelwand. Die Gewalt der Explosion hatte es nicht vermocht, ihnen ein einziges Haar zu krümmen. Etwas wie Tragik lag über dieser kleinen Familie. Herr Fersenheim, ein Behördenangestellter niedrigsten Ranges schaffte es gerade so, Frau und Kind zu ernähren. Durch seine dicken Brillengläser konnte er kaum etwas sehen. Um sein einziges Kind, die Gitta zu schützen, war er in die NSDAP eingetreten. Gitta war geistig behindert und er hoffte, unter dem Schutz seiner Parteizugehörigkeit, würde man ihnen Gitta nicht wegnehmen; was sich auch als richtig erwies. In ihrer zerstörten Wohnung über Biens, stand auf dem Tisch in der vollkommen verwüsteten Küche, eine Schüssel mit 12 rohen unversehrten Eiern, als wäre nichts geschehen. Genauso ein Kuriosum erzählten Biens. In ihrem Wohnzimmer hinter der Giebelwand, inmitten des ganzen Durcheinanders leuchtete eine große blaue Glasvase mit herrlichen Gladiolen.

Herr und Frau Mus, die Bewohner der Parterrewohnung unter Biens, gingen nur selten in den Keller. Herr Mus, ein Invalide aus dem ersten Weltkrieg, war lediglich durch den Luftdruck in seinem Korridor schwer gestürzt - weiter nichts.

Unser aller Glück war wohl damals, daß die Kriegerheimsiedlung der erste Plattenbau Deutschlands war. 1926 erbaute man sie nach holländischem Vorbild aus vorgegossenen Zementwänden, in denen zur Stabilisierung ein Geflecht aus Eisenstangen verborgen steckte. Ein Ziegelbau wäre durch den kolossalen Luftdruck der Detonation zusammengefallen wie ein Kartenhaus - der Schaden wäre viel größer geworden.

Wir konnten unser Haus betreten; unsere Wohnung lag gleich Hochparterre rechts. Natürlich hingen alle Türen nur noch eingedrückt in den Angeln und die Kachelöfen lagen zu dreckigen Haufen zusammengefallen in den Ecken. Die zerborstenen Fensterscheiben steckten als große und kleine Splitter in den Holzmöbeln und Polstersachen. Alle Lampen baumelten kaputt von den Decken herab und die Gardinen wehten als Fetzen im Wind des Durchzugs. Porzellan und Kristall, auf das meine Mutter so stolz gewesen war, gab es nicht mehr. Unser schon angeschmorter Sonntagsbraten lag neben dem Bräter im Garten; genau wie die Seife, die meine Mutter gekocht hatte und die zum Austrocknen auf dem Balkon lag.

Alles war kaputt - und doch gab es ein Wunder zu bestaunen! Unser blauer Wellensittich Jacki saß vergnügt in seinem Käfig und rief uns freudig erregt entgegen: »Jacki Heinze -Triftweg sieben sieben!« (siebenundsechzig konnte er nie sagen) »Muttis Jacki - Papas Süßer - Rosis Lieb-Lieb!« Hilflos standen wir nun in dem totalen Chaos, ich mit dem Vogelkäfig in meiner Hand.

Nach erstaunlich kurzer Zeit stürzte sich ein Heer von Helfern auf uns. Das Technische Hilfswerk rückte an, das Rote Kreuz, die Polizei, die Organisation Todt, Militär und Feuerwehr - aber zu löschen gab es nichts. Dann verweigerte man uns den Zutritt zu unserem Haus wegen Einsturzgefahr, aber das Technische Hilfswerk schleppte die ganze Nacht über alles noch Brauchbare aus den Giebelwohnungen heraus und stellte es auf den Bürgersteig vor das kleine Wasserwerk. Alles wurde strengstens bewacht, es verschwand nicht die geringste Kleinigkeit.

Da stand Frau Bien nun tottraurig vor den Resten ihrer Habe und sagte unter Tränen: »So kann ein einziger Augenblick alles umgestalten!«

Wölfchen freute sich wie wahnsinnig, wenn ein Spielzeug von ihm aus den Trümmern geborgen wurde, so wie seine geliebte Eisenbahn, die er heute noch besitzt. Leider konnte man die bildschöne bunte Indianerhaube und den Cowboyhut nicht mehr retten. Auch sein entzückender Bauernhof mit den vielen Tieren, den ich so geliebt hatte, war für immer zerstört.

Als wir damals alle in der Nacht so herumstanden, wurde viel erzählt und so auch, daß ein völlig fremder Mann womöglich ein größeres Blutbad verhindert habe. Er hatte vielleicht das feindliche Flugzeug heranfliegen sehen, denn er brüllte plötzlich von der Ecke her, wo die Bahnbrücke über die Treskowallee führt, so laut er konnte: »Alle in den Bunker.« Leichtsinnigerweise standen immer etliche Neugierige außen vor den Bunkertüren. Wie aufgescheuchte Hühner befolgten sie den Warnschrei und retteten sich, ehe eine der vier Bomben in das Akazienwäldchen neben unseren Bunker krachte.

Neugierige tauchten auf und behinderten alles. Wir starrten vor Dreck. Vollkommen benommen und ratlos standen wir Mieter beisammen. Wir konnten nicht das Geringste tun, weil wir nun nicht mehr in die Wohnungen durften. Angehörige der Wehrmacht, der Polizei usw. versorgten uns mit heißem Tee, trösteten uns und schickten uns dann in die zweite Volksschule in den Römerweg; da sei alles für unsere Unterbringung bereit. Diese Schule kannte ich sehr gut. Sie war nach ihrer Neueröffnung im Oktober 1937 meine eigene gewesen. Nach Kriegsausbruch mußten wir sie räumen und zogen in den Trakt des Lyzeums, auch im Römerweg gelegen.

In der neugebauten Schule richtete man alle Räume als Notquartiere her. Tatsächlich - wir wurden schon erwartet. Die Organisation klappte vorzüglich. In unserer ehemaligen Turnhalle schmierten im Morgengrauen freundliche Frauen in weißen Kitteln schon eifrig leckere Schnitten und boten wieder heißen süßen Tee an. In Waschräumen konnten wir uns reinigen und dann zum Schlafen ins eigentliche Schulhaus gehen. In allen Klassenzimmern standen Betten mit einladend, sauberbezogenen Kissen, in die wir halbtot hineinplumsten. Vor Aufregung konnten wir natürlich nicht lange schlafen. Es zog uns zu unserem Trümmerfeld. Nach einem guten Frühstück gab man uns noch dicke Stullen mit auf den Weg. Mein Gott - was fanden wir vor! Die Menschen waren unterwegs wie zu einem Volksfest. Halb Berlin wollte sich ansehen, wie es aussah, wenn Bomben gefallen waren.

Die Straßenbahn 69 karrte sie von weither heran. Die Menschen hingen an ihr wie die Kletten. An der Treskowallee sperrte die Polizei den Triftweg ab. Die zweite Sperre lag an der Friedenshorsterstraße. Wir mußten uns glaubwürdig ausweisen, damit man uns durchließ. Ganze Trupps von Arbeitsdienstlern und Soldaten fingen schon mit Aufräumungsarbeiten an. Meine Mutter beschwerte sich laut, weil man sie nicht in unsere Wohnung ließ, aber ein schmächtiger junger Polizist, der unser Haus bewachen mußte, hinderte sie. Er war richtig etwas zu energisch und zog sich den Zorn meiner Mutter und den unserer Nachbarinnen zu. Etwas später kam eine höhere Kommission der Wehrmacht, begutachtete den angerichteten Schaden und die Gefahr eines eventuellen Einsturzes. Sie kam zu dem Schluss, wir dürfen das Haus betreten, es war von überraschender Stabilität. Nie werde ich das schadenfrohe Frohlocken einer Nachbarin vergessen, der Frau Radelhof. Triumphierend sah sie den schmächtigen Polizisten an und sagte: »Sehnse, sie kleener Wachtmeester sie!« Das kam so richtig vom Herzen und meine Mutter erzählte es noch lachend nach vielen Jahren.

Dieser Bombenangriff war der erste auf den Bezirk Lichtenberg, der Schaden angerichtet hatte. Viele Offiziere kamen, um sich die Folgen anzusehen. Der ganze Bombenschaden passte den Nazis überhaupt nicht. Er war schlecht fürs Image. Am liebsten hätten sie die Sache ungeschehen gemacht. Es berührte sie peinlich. Und deshalb wohl, bekamen wir zwei Tage danach mitgeteilt, es würde alles wieder aufgebaut werden und wir sollen jeden Verlust ersetzt bekommen. Jeder Familie teilte man eine Notwohnung zu. Unsere lag in der Großen Frankfurter Straße, heute Karl-Marx-Allee. Meine Eltern konnten sie vorher besichtigen, ob sie ihnen auch gefällt. Ja, sie gefiel ihnen, sie lag gleich neben der Andreasstraße. Wölfchen hatte Glück. Seine Eltern fanden eine freie Wohnung in der Siedlung - in der wohnt er heute noch.

Insgesamt verbrachten wir acht Nächte in den Betten der Römerschule und wurden bestens verpflegt. Eine Nacht ist mir in ganz besonderer Erinnerung geblieben. Schlaftrunken tappte ich über den langen verdunkelten Flur auf den Lokus und wieder zurück in mein Bett. Nichts kam mir anders vor - ich kuschelte mich in meine Decken. Plötzlich erschreckte mich die laute Stimme von Herrn Fersenheim: »Was ist denn nun los?« und das Licht ging an. Was sah ich beim verstörten Hochfahren? Ich lag im Bett eines ganz anderen Zimmers und hatte Glück gehabt, daß noch keiner drin lag. Entsetzt flüchtete ich vor dem Lachen der anderen.

Mein Vater konnte meiner Mutter bei all der Arbeit kaum behilflich sein. In der Fleischfabrik mußte die Kühlung repariert werden, das war sein Arbeitsgebiet. In unsere Trümmerbehausung kamen zuerst einmal die Schätzer. Die schätzten jede zerschlagene Sammeltasse, jeden Gardinenfetzen, jedes zerfledderte Sofakissen, den seidenen Lampenschirm, einfach alles was zerstört oder beschädigt worden war. Alles beurteilte man sehr großzügig. Aber trotzdem ließ sich mancher Schaden nicht wiedergutmachen, denn die Markenporzellane und die Kristallschalen, die einmal der Stolz meiner Mutter gewesen waren und aus einer Erbschaft ihrer Familie stammten, die gab es nicht mehr zu kaufen. Sie waren für immer in Scherben gefallen.

Dann kamen Möbelpacker mit großen Wagen und vielen Kisten. Sie packten alles, was noch gebrauchsfähig war, ein und schafften es in die Notwohnung, wie man sie nannte. Alle unsere Möbel wurden in Werkstätten transportiert, aufs beste aufgearbeitet und auch zu uns in die neue Wohnung geliefert. Nach genau einem halben Jahr konnten wir in das aufgebaute Haus, das aber nun einen Giebel aus Ziegelsteinen besaß, in eine tadellos neu renovierte Wohnung zurückziehen. Wieder waren Packer gekommen, hatten allen unseren Kram verpackt, säuberlich und behutsam, in den Triftweg gefahren und alles nach den Wünschen meiner Mutter eingerichtet. Ein Dekorateur brachte die Gardinen an.

Auch die zerbombte Fabrik nebenan war aus den Trümmern auferstanden und der große Schornstein wieder hochgezogen, aber nicht mehr rund, sondern viereckig. Nur den schönen, blitzenden Laden gab es leider nie mehr; ein einfacher Profanbau entstand an seiner Stelle, in dem nach 1945 auch wieder ein Fleischwarengeschäft eingerichtet wurde, später dann eine Tierhandlung.

Zur Zeit des Dritten Reiches gab es wenig konkrete Informationen. Die Zeitungen schwindelten uns die Hucke voll und das Radio, auf das wir hauptsächlich angewiesen waren, erzählte uns nur das, was wir unbedingt glauben sollten. Darum spielten Gerüchte, unter der vorgehaltenen Hand erzählt, eine große Rolle, den in ihnen steckte oft die Wahrheit; wenigstens zum Teil.

So erzählte man gleich nach dem Bombenangriff auf uns, der Flieger sei ein Russen gewesen und habe seinen Heimatflughafen nicht mehr erreicht, weil man ihn über Pommern vom Himmel schoss. Das befriedigte uns etwas.

Das es ein Russe gewesen sein sollte, galt schon damals als auffallend, denn das war noch nie passiert. Hauptsächlich bombardierten uns Engländer. Die Amerikaner stiegen erst etwas später in den Luftkrieg ein. Die Engländer kamen dann nachts und die Amis am Tage.

Ich zweifelte das Gerücht über die russischen Flieger nie an, ich nahm es als Tatsache und schrieb es auch in meiner Geschichte - aber dann überkamen mich große Zweifel, weil das Gerücht bei vielen Freunden auf Unglauben stieß. Sie behaupteten, das könne gar nicht möglich sein und so nahm ich dieses Gerücht einfach raus aus der Geschichte - aber es ließ mir keine Ruhe.

Ich fing an, wie verrückt Berichte und Aufzeichnungen durchzuforsten, denn ich will immer alles so genau wie möglich wissen. In fast allen Büchern wurde der Angriff auf uns einfach totgeschwiegen, was mich direkt in Rage brachte - ich hatte ihn doch selbst erlebt! Endlich ein kleiner Hinweis.

In der Chronik des 20.Jahrhunderts stand unter dem 28.08.1942: Sowjetischer Luftangriff auf Berlin, Stettin, Königsberg und Danzig. Das beflügelte mich und ich suchte weiter.

Dann fand ich das Gerücht in einem Buch von Werner Girbig bestätigt. Es heißt: »Im Anflug auf die Reichshauptstadt« und ist im Motorbuchverlag in Stuttgart 1972 erschienen.

Werner Gribich schreibt, daß die russischen Flugzeuge zu veraltet waren und sich für einen Langstreckenangriff auf Berlin nicht eigneten. Darum führten die Sowjets bis 1945 nur zwei Angriffe auf Berlin durch. Der 1. fand am 8.August 1941 statt. Ein kleiner Verband Iljuschin JL-4 gelangte bis Berlin; doch nur ein einziger Bomber scheint wirklich den Berliner Luftraum überflogen zu haben. Nach kurzer Zeit erfassten ihn die Strahlen der Scheinwerfer und die Flak schoss ihn herunter - irgendwo am Stadtrand stürzte er brennend ab. Von Bombenabwürfen auf Berlin in dieser Nacht, berichtet Werner Girbig nichts. Es schien sich nur um einen Störangriff zu handeln.

Über den zweiten Angriff der russischen Luftwaffe, bei dem es sich um den handelt, der unsere Kriegerheimsiedlung und die Fabrik betraf, schreibt er, »daß in der Nacht zum 30. August 1942 russische Kampfflugzeuge Störangriffe über Ost- und Nord- Deutschland durchführten. Einige Flugzeuge drangen bis Berlin vor. Die deutsche Abwehr verjagte sie durch starkes Flakfeuer, aber es gelang ihnen, über den Außenbezirken einzelne Bomben abzuwerfen. Der entstandene Schaden war gering.«

Uns hatte er jedenfalls gereicht. Alles ist Ansichtssache. Für Familie Sattler wurde der Schaden zum Drama, aber leider zählt ein einzelnes Drama in keinem Krieg, es ist vollkommen bedeutungslos. Natürlich gab es vorher und nachher viel größere - ja verheerendere Bombenangriffe. Ich füge die Kopie eines Berichtes über einen Großangriff auf Berlin vom 3.Februar 1945 bei, damit jeder eine Vorstellung hat.

Die Bilder, die von dem Bombenangriff auf unser Haus in der Kriegerheimsiedlung und auf die Fleischwaren-Fabrik Sedina existieren, haben Herr Krüger, der Besitzer der Fabrik war, und mein Vater, heimlich im Morgengrauen aufgenommen und ließen sie auch heimlich in einem privaten Labor entwickeln.

Bilder und Dokumente